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Titel
Eroberung und Inbesitznahme. Die Eroberung des Aargaus 1415 im europäischen Vergleich


Herausgeber
Hesse, Christian; Regula Schmid, Roland Gerber
Erschienen
Ostfildern 2017: Jan Thorbecke Verlag
Anzahl Seiten
311 S.
Preis
€ 45,00
von
Michael Jucker, Historisches Seminar, Universität Luzern

Der vorliegende Sammelband basiert auf einer Tagung, die im Juni 2015 an der Universität Bern stattgefunden hat. Anlass war das «Jubiläum» der Eroberung des Aargaus von 1415. Der Band vereinigt 17 Beiträge, die in europäisch-vergleichender Perspektive militärische Vorgänge, Beherrschung und Verwaltung sowie spätere Rechtfertigungen von Eroberungen untersuchen. Der komparative Zugang ermöglicht neue Sichtweisen und vor allem das Aufzeigen von noch kaum aufgezeigten Ähnlichkeiten unterschiedlichster Eroberungsvorgänge in Europa, so zumindest der Wunsch der Herausgeber. Zwar haben bereits ältere Historiker den Vergleich zwischen der Wahrnehmung der Eroberung aus eidgenössischer und österreichischer Perspektive gezogen. Neu an diesem Band ist sicherlich die erweiterte Optik auf Kriegsführung, Eroberungen, die militärische Aneignung und die nachträgliche Verwaltung von Territorien. Denn lange hat die traditionelle Militärgeschichte nur einzelne Schlachten, vermeintliche Taktiken oder Kriegszüge aus der Feldherrenperspektive betrachtet. Schlachten und Eroberungen galten in der älteren Militärund Kriegsgeschichte als durchdachte Ergebnisse geplanter Herrschaftspolitik. Eroberungen und die Inbesitznahme waren beabsichtigte Produkte strategischer Überlegungen und konsequenter Herrschaftsausübung. Dass Kriege oft zufällig verliefen, vor allem im späteren Mittelalter kaum planbar waren und häufig chaotisch endeten, ist jedoch mittlerweile in der Forschung allgemein anerkannt. Die neuere Militär- und Kriegsgeschichte hat es in den letzten 15 Jahren zudem geschafft, die Kulturgeschichte als neues Untersuchungsfeld zu integrieren und beispielsweise Auswirkungen des Krieges auf die Wahrnehmung von unten, die Produktion von Kultur und den Kulturtransfer in den Blick zu nehmen.

So zeigen beispielsweise Christian Hesse in der Einleitung und Regula Schmid in ihrem Beitrag auf, wie die Berner Chronisten in bebilderten Chroniken die Eroberungen legitimierten und in einen reichspolitischen Kontext setzten, ein Zusammenhang, der erst nachträglich kulturell hergestellt wurde. Hesse zeichnet in der durchdachten Einleitung zudem ein breit angelegtes Tableau an Themen auf, das die Ursprungsidee des Bandes aufzeigt. So strukturieren drei Themenblöcke den Band: 1. «Eroberung und Besitznahme», 2. «Herrschaft und Verwaltung» und 3. «Legitimation und Nachleben». Zu Recht betont Hesse, dass es sich dabei nur um analytische Kategorien handelt. Dieses Analyseraster wird dann auch im Band, der zwar einen Schwerpunkt auf der Eidgenossenschaft hat, auf andere Gebiete übertragen, so beispielsweise auf das Tessin und Oberitalien (Beiträge von Paolo Ostinelli, Giorgio Chittolini und Michael Knapton) sowie auf Nordfrankreich im Hundertjährigen Krieg (Beiträge von Anne Curry, Rémy Ambühl und Jean-Marie Moeglin).

Allerdings trifft man nicht in allen Beiträgen auf dieselben Analyseraster. Einige beschreiben eher den Blick von aussen, andere nehmen eine klassische Herrschaftsposition ein. So beispielsweise Peter Niederhäuser, der durchdacht und wie gewohnt quellenreich die Sicht Herzog Friederich IV. von Österreich auf seine zerfliessende Landesherrschaft um 1415 beschreibt. Roland Gerber wiederum zeichnet Berns Weg in den Krieg als Teil einer Umland- und Territorialpolitik nach, die vorwiegend der Sicherung von Handelswegen diente. Diese Sichtweise ist insofern neu, als dass sie die Eroberung nicht als von langer Hand geplante, aggressive Expansionspolitik Berns beschreibt. Paolo Ostinelli aber auch Martina Stercken machen zudem deutlich, dass Eroberer stets mit den lokalen Herrschaftsträgern kooperieren mussten. Diese Optik offenbart, dass einzelne Familien, Adlige oder lokale Potentaten nicht einfach zu beherrschen waren und sich schwer einbinden liessen. Die Beherrschenden mussten sich mit ihnen immer wieder neu arrangieren. Leider ist diese differenzierte Perspektive nicht allen Beiträgen gemein: Häufig ist von «den Eidgenossen» oder den anderen «Eroberern» die Rede. Doch auch «die Eroberer» waren sich vielfach uneinig. Deutlich wird dies beispielsweise in den Ratsverhandlungen in Zürich, als es um die Eroberung des Tessins und die Beteiligung der Stadt ging. Oder beim Streit um die Burgunderbeute der eidgenössischen Orte nach den Kriegen gegen Karl den Kühnen 1476. Die Eidgenossen waren bis weit in die Frühe Neuzeit hinein keine homogene Macht. In Anne-Marie Dublers Beitrag wird dies anhand der lange andauernden Streitigkeiten unter den eidgenössischen Orten um die Landesverwaltung der «Beute Aargau» allerdings deutlich hervorgehoben.

Dass Eroberungen und die spätere Verwaltung stets auch mit Aneignung von lokal vorhandenem Herrschaftswissen, der Wiederaufnahme von älteren Rechtszuständen und den erbeuteten herrschaftlichen Archiven zu tun haben, verhandeln die Beiträge von Carmen Tellenbach, Bruno Meier und auch Claudius Sieber-Lehmann.

Ohne auf alle lesenswerten Beiträge eingehen zu können, sei hier auf die sehr gute Zusammenfassung von Tom Scott verwiesen. Er leistet eine wichtige Synthese und führt eine umsichtige Diskussion um die Begriffe «Eroberung» und «Inbesitznahme». Er schlägt als Alternative zu Recht den Begriff der «Annexion» vor. Denn häufig war bei der kriegerischen Handlung gar noch nicht klar, ob und wie lange das Gebiet gehalten oder gar später verwaltet werden sollte. Die Temporalität von Eroberungen müsste noch genauer untersucht werden. Die diversen Spielarten von Eroberungen und unterschiedlichsten territorialen Aneignungen kommen bei Scott nochmals deutlich zur Sprache. Er betont mit Nachdruck, dass Eroberungen in der Vormoderne kein Resultat eines gemeineidgenössischen Eroberungswillens oder einer gemeinsamen Ideologie waren. Vielmehr resultierten sie als Lösungen für politische Schwierigkeiten und rivalisierende Positionen. So stellt Scott auch die Möglichkeiten des europäischen Vergleichs, der im Untertitel des Bandes einiges verspricht, in Frage. Denn Eroberungen und Inbesitznahmen waren stets lokale Antworten auf lokale Probleme, auch wenn diese nachträglich von den Chronisten ähnlich beschrieben wurden.

Obwohl der Band sein Versprechen eines europäischen Vergleichs nur begrenzt einlösen kann und sich die vorgegebenen Analyseraster nicht durch alle Beiträge durchziehen, verdient er Beachtung, weil er unterschiedliche Perspektiven auf ähnliche Ereignisse und Probleme der Kriegsführung und Verwaltung von Territorien ermöglicht. Bedauernswert sind zwei Punkte: Erstens, dass die einzelnen Beiträge, obwohl sie Produkte einer sicher diskussionsfreudigen Tagung sind, nicht stärker aufeinander eingehen oder gegenseitige Bezüge herstellen und zweitens, dass sie teilweise nicht auf dem aktuellen Stand der Forschung sind. Dies ist jedoch nicht das Verschulden der Herausgeber, die einen schön gestalteten, sprachlich sorgfältig redigierten Tagungsband präsentieren, der durch ein hilfreiches Personen- und Ortsregister abgeschlossen wird.

Zitierweise:
Gal, Stéphan: Rezension zu: Hesse, Christian; Schmied, Regula; Gerber, Roland (Hg.): Eroberung und Inbesitznahme. Die Eroberung des Aargaus 1415 im europäischen Vergleich, Ostfildern 2017. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 71 (1), 2021, S. 166-168. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00080>.

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